Mali | warum Mali immer islamistischer wird

Selbst junge Mädchen tragen eine Djibab über Kopf und Schultern. Das war vor zehn Jahren eher selten. Im alltäglichen Leben tauchen immer mehr Frauen auf, die einen den ganzen Körper und das Gesicht bedeckenden Tschador tragen. Diese Frauen gehören meist zur Gruppe der in Mali immer mehr an Einfluss gewinnenden Wahhabiten. An den Mauern entdecken wir Werbebanner mit der Aufschrift: Lerne den Koran lesen und verstehen! Die Moscheen des Landes bieten islamische Grundlagenkurse an.  Der Hohe Islamische Rat erhält immer mehr Einfluss in der Politik.  An dessen Spitze steht der Imam Mamadou Dicko, ein ausgewiesener Wahhabit. Seit 2012 wird die Laizität des Staates im wieder in Frage gestellt. Manche plädieren für verfassungsmäßig verankerte Einführung einer moderaten Scharia in Mali. Der Versuch schlug bisher fehl.
Für die zunehmende Isalmisierung gibt es makropolitische und für die westafrkanische Region spezifische Gründe.


Die makropolitischen Gründe der Radikalisierung des Islam
  • Schon gegen Ende des 19. Jh. wurde bei der Bildung der salafistischen Muslimbruderschaft in Ägypten eine antiwestliche und antikoloniale Strömung deutlich, die sich im Laufe der Jahrzehnte immer mehr verfestigt hat. 
  • Weltweit hat sich der Islam seit dem Untergang der Talibanherrschaft in Afghanistan (1996-2001) und den  Anschlägen in New York (2001) sowie der amerikanischen Reaktion in Form des Irakkriegs inzwischen zunehmend radikalisiert. Die Taliban stammen ursprünglich aus Pakistan (Paschtun) und zeichnen sich durch eine deobandische Theologie, Struktur und Rechtsauffassung aus. (Deoband ist eine indische Stadt im Bundesstaat Uttar Pradesh, in der seit 1866 eine islamische Hochschule beheimatet ist. Die dort verbreitete Lehre ist sehr dogmatisch, weiß sich dem ursprünglichen Islam verpflichtet und eher antiwestlich).
  • Das internationale Terrornetzwerk von Al-Quai-da u. Co. wäre ohne die jüngsten Ereignisse und Entwicklungen seit den 1990er Jahren nie so einflussreich geworden. Als der amerikanische Präsident am Tag nach dem Anschlag in New York die Achse des Bösen beschrieb und darin die islamische Welt einbezog, lief das Fass über. Die westliche Politik wurde als antiislamisch interpretiert. Der Kampf der Kulturen wurde eröffnet. Der Botschafter der USA in Mali wurde einberufen und hat eine Tournee durch malische Moscheen unternommen, um die Situation zu entschärfen, die amerikanische Position zu erklären und so die „heiße Luft aus dem kurz vor der Explosion stehenden Ballon zu nehmen“.
  • Der sog. Arabische Frühling, der vom Westen (viel zu früh) als Sieg der Demokratie gefeiert wurde, hat islamistische politische Gruppierungen an die Oberfläche gespült. Trotz aller Makel waren die Muslimbrüder in Ägypten durch eine demokratische Wahl an die Macht gekommen – die aktuelle Militärregierung dagegen nicht. Ein anderes Bespiel ist die Partei Ennadha in Tunesien. Die Leute fragen sich: "Was ist das für eine Demokratie, die nur Mehrheiten akzeptiert, die passen?" Die aufgezeigten Entwicklungen haben auch Auswirkungen auf das politische Bewusstsein der religiösen Führer in Mali. Die Gründung religiös politischer Parteien liegt im Trend. Demokratie ist in Mali entgegen aller Bekundungen eher eine Sache auf dem Papier und einiger Intellektueller - die Masse identifiziert sich damit nicht. Und das wissen die religiösen Führer.
Die Auswirkungen der Islamisierung in Mali und einigen Nachbarländern

In den nordafrikanische Maghrebstaaten und in einigen Nachbarländern Malis wie Burkina Faso, Niger und Tschad nimmt die Islamisierung zu - mit mehr oder weniger radikalen Untertönen. Die internationale Radikalisierung des Islam hat also auch Auswirkungen auf den an sich eher als moderat geltenden Islam in Mali. Die Muslime in Mali konzentrieren sich immer mehr auf ihre religiösen Wurzeln. Und das hat Gründe.
  • Europa schottet sich gegen afrikanische Migranten und Flüchtlinge ab. Die Grenzen werden dicht gemacht. Dies führt auch dazu, dass radikale islamische Strömungen zum Auffangbecken enttäuschter Menschen werden. Statt einen Job in Europa zu finden, finden sie möglicherweise eine „Anstellung“ in einer salafistischen Miliz. Die Entdeckung terroristischer Trainingscamps im südlichen Mali zeigt, dass der Islamismus nicht nur für den Norden eine Gefahr darstellt. Aminata Traoré, Journalistin und Autorin merkt an: „Die muslimische Bevölkerung des Südens fühlt sich festgehalten und eingeschweißt wie in einer Büchse. Sie können nicht raus und man verbietet ihnen, diese Büchse zu verlassen. Die Konsequenz ist die, dass das Risiko einer sozialen Explosion wächst. Die Menschen radikalisieren sich, besinnen sich auf ihre Wurzeln, d.h. auf die des Islam.“
  • Die jungen Leute in Mali gehen wieder in die Moscheen. Manche aus Pflichtbewusstsein, viele aus Überzeugung. Die Religion wird zum Zufluchtsort der von hoher Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit geprägten Jugendszene. Ein Jugendvertreter aus Bamako bestätigt diesen Trend: „Wenn die Jugendlichen keine Arbeit finden, wenden sie sich der Religion zu. Die Wahhabiten nehmen sie auf. Wenn du zwei oder drei Jahre regelmäßig in die Moschee gehst, dann greifen sie dir wirtschaftlich unter die Arme. Wenn du keine Hoffnung mehr hast, dann hilft dir die Religion.“
  • Islamische Vereine schießen aus dem Boden. Die größte seit Jahren tätige Vereinigung gruppiert sich um Cheik Haidara, der es schafft, ein Stadion mit 50.000 Menschen zu füllen. Es sind meist Analphabeten, arme Leute, die sich von der Regierung vernachlässigt sehen. In Bamako-Bankoni steht eine nagelneue Moschee, eine riesige Koranschule und ein Gesundheitszentrum. Haidara predigt einen moderaten Islam. Mamadou Dicko dagegen ist ein Wahhabit, der den arabischen sunnitischen Islam vertritt. Sein Anspruch, die Politik des Landes zu bestimmen ist mit Händen zu greifen. Ein Beispiel ist der vom Hohen Islamischen Rat angeführte Kampf für eine traditionelle am Koran orientierte Familienpolitik. Konkret: Frauen sind zum Gehorsam verpflichtet, der Mann ist der einzige Chef der Familie, das Heiratsalter wurde heruntergesetzt, Mädchen haben kein Mitspracherecht usw.). Der damalige Präsident ATT hat dem Druck der Islamisten nachgegeben und die liberale Fassung des Familiengesetzes auf Eis gelegt.
  • Journalistische Dummheiten im Namen der Pressefreiheit, wie die Charlie-Hebdo-Affaire schüren den Hass gegenüber dem Westen, der sich religiösen Gefühlen anderer gegenüber als unsensibel erweist. Das Attentat auf ein Restaurant in der malischen Hauptstadt wurde zumindest teilweise mit dem Slogan „Je ne suis pas Charlie!“ begründet.
  • Im Norden Malis sehnen sich die Menschen nach Sicherheit. Die kann die malische Zentralregierung mit ihrer schwachen Armee nicht garantieren. Die islamistischen und autonomen Milizen des Nordes schon. Sie rekrutieren junge Leute, manchmal auch Kinder, versorgen sie mit Essen und Medikamenten, indoktrinieren sie  und bilden sie an der Waffe aus. Die Präsenz der internationalen Schutztruppen wird als Einmischung interpretiert. Besonders Frankreich hat mit dem negativ belasteten Ruf der alten Kolonialmacht zu kämpfen. 
Die Radikalisierung in den nördlichen Gebieten Malis hat aus meiner Sicht drei Hauptgründe:
  • Die Tuaregfrage wurde seit der Zeit der Kolonialisierung und in der Zeit der Unabhängigkeit nicht zufriedenstellend gelöst. Die Tuareg haben sich im Kampf gegen die Franzosen stark engagiert. Firhoun, der Chef der lwllimminden (Tuareg) widersetzte sich der französischen Kolonialmacht im Bereich des Nigers zwischen Timbuktu und Gao. In den Jahren 1902 - 1916 formierte sich der Widerstand, der durch die übermächtigen Franzosen niedergeschlagen wurde. Für dieses Engagement sind sie nach der Unabhängigkeit ihrer Meinung nach nicht genügend „entschädigt“ worden, in Bezug auf politischen Einfluss, Territorium und wirtschaftliche Vorteile. Auch die verschiedenen Abkommen in den 1990er Jahren, die durch den damaligen malischen Präsidenten Alpha O. Konaté initiiiert wurden, konnten keine endgültige Lösung herbeiführen. Es kam zu militärischen Konflikten, die Hilfsorganisationen zum Rückzug zwangen.
  • In der Phase des algerischen Bürgerkriegs zwischen 1991-2001 haben die radikalen Kräfte (Islamische Front FIS u.a.) eine Niederlage hinnehmen müssen. Viele der Kämpfer haben sich samt Waffen in das südlich angrenzende Mali zurückgezogen. Ihre islamistische Ideologie haben sie nicht aufgegeben - das Territorium ihres Kampfes hat sich lediglich in Richtung Süden verschoben. 
  • Der dritte Grund liegt im Untergang des von Gaddafi beherrschten Libyen. Söldner der libyschen Armee, darunter auch viele Malier, zogen sich wie zuvor viele Algerier in die Unwegsamkeit der malischen Wüste (Sahara) zurück. Der durch westliche Einmischung verursachte Crash hat die politische Stabilität der ganzen Region untergraben. Die Leute sagen: „Warum mischt sich der Westen in alles ein. Die glauben, sie hätten für alles die richtige Lösung – was aber nicht stimmt!“
Was sind die Folgen? 
Die nach Autonomie strebenden Tuareg, die radikalen Kämpfer aus dem algerischen Bürgerkrieg und die mit modernen Waffen ausgerüsteten Söldner gehen eine Koalition ein, um die teilweise sehr unterschiedlichen Interessen gemeinsam im Kampf gegen die malische Armee zu erreichen. Wirtschaftliche Interessen (Bodenschätze, Drogenhandel) sowie politische und religiöse Ziele sind ineinander verwoben. Es entsteht ein nicht mehr zu kontrollierendes Gemisch. Die einen verfolgen rein politische Ziele (Autonomie, aber keine Scharia). Die anderen streben die gesamtmalische Herrschaft im Namen des Islam und die Einführung der Scharia an. Den Franzosen wird permanent Doppelzüngigkeit vorgeworfen. Der Vorwurf lautet: Sie bekämpfen einerseits den islamistischen Terrorismus, unterstützen aber gleichzeitig die Autonomiebestrebungen der Tuareg, um sich langfristig den Zugriff auf die Bodenschätze im Norden des Landes zu sichern. Die Freilassung einer französischen Geisel und die zeitgleiche Freilassung hochgefährlicher Terroristen aus malischer Obhut hat in der malischen Bevölkerung sehr viel Unmut hervorgerufen. 
Die Aktionen der Rebellen können von der malischen Armee nicht gekontert werden. Bamako verliert die Kontrolle und es entsteht eine landesweit bedrohliche Situation, ein Flächenbrand, der auch von den gut ausgerüsteten internationalen Schutztruppen in der Weite der Sahara kaum gelöscht werden kann. Hinzu kommt der Putsch vom März 2012, der Mali damals in die Isolierung trieb und wirtschaftlich sowie militärstrategisch weiter geschwächt hat.

Die internationale Staatengemeinschaft, die Nachbarländer Malis und die Regierung in Bamako geraten unter Druck. Frieden scheint nur möglich, wenn den Minderheiten und damit auch den extremen Forderungen ein Stück weit nachgegeben wird. Die seit 2012 tagenden Friedenskommissionen in Bamako, Ouagadougou und Algerien gelingt es nur sehr schwer, die unterschiedlichen Interessen einer nachhaltigen politischen Lösung zuzuführen.
Die schleichende aber mittlerweile doch sehr offensichtliche Islamisierung des Landes ist eine Folge dieser Kompromisssituation und einer permanenten Schwäche der Zentralregierung in Bamako. Imame mischen sich in die Politik ein, gründen Unterstützerkreise für bestimmte politische Bewegungen und „empfehlen“ den Gläubigen einen Kandidaten zur Wahl, der der Sache des Islam am ehesten förderlich ist. Es entstehen neue Moscheen und islamische Bildungszentren. Hunderte von jungen Geistlichen werden nach Marokko zur theologischen Ausbildung geschickt. Dort werden sie zu malikitischen Imamen ausgebildet. Diese Maßnahmen werden aus der Staatskasse oder von arabischen Geldgebern finanziert.

Was bedeutet die Entwicklung für die Christen?
Solange der Islam in Mali moderat bleibt, haben die Christen nicht um ihre Existenz zu fürchten. Muslime können Christen drohen oder ihre Lebenssituation schwierig gestalten. Doch auch Christen, nicht nur Muslime, haben einen Glauben, der sie ermutigt, die Hoffnung nicht aufzugeben und weiter Flagge zu zeigen. Die landesweit gutbesuchten Ostergottesdienste haben gezeigt, dass die Christen nicht bereit sind, sich einschüchtern zu lassen. 
Die zunehmende Islamisierung der Politik wird ihnen aber Nachteile in der Rechtsprechung und im Bereich der wirtschaftlichen Förderung einbringen. Es gibt zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren: der öffentliche Protest gegen die zunehmen Islamisierung, gegen die die christliche Minderheit kaum eine Chance hat oder die konstruktive Flucht nach vorne, die Freiheiten nutzen, christliche Schulen gründen, eigene familienpolitische Grundsätze formulieren, den Schutz des Staates im Namen der Laizität und von der Verfassung garantierten Religionsfreiheit einfordern …

Leider ist in den christlichen Kreisen Malis die Mentalität des konstruktiven Protests und der leisen Revolution von unten unterentwickelt. Man erträgt die Situation, statt sie zu verändern. Hinzukommt, dass die Gemeinden in Mali den islamischen Maßnahmen der von arabischen Großmuftis finanzierten massenhaften Ausbildung von geistlichen Leitern und dem zunehmenden Bau von Moscheen finanziell kaum etwas entgegenzusetzen hat. Die einen leben von Spenden, die anderen stützen sich auf den Staatshaushalt befreundeter arabischer Staaten. Die christlichen Missionen ziehen sich langsam zurück. Im Gegenzug dazu steigt die Anzahl malisch-arabischer Initiativen zur Förderung des Islam. 
Meine Hoffnung ist, dass der traditionell moderate Islam in Mali und die Bereitschaft zur friedlichen Koexistenz eine weitere Radikalisierung verhindern. Die Malier haben gelernt zwischen Muslim und Muslim zu unterscheiden. Schon in den Jahren des algerischen Bürgerkriegs und den gewaltsamen Talibanbewegungen in den 1990er Jahren wurde deutlich: Das ist nicht der Islam, den wir wollen. - Doch seit dem ist das Klima rauer und radikaler geworden. 
Und für die Christen gilt: Jetzt ist die Zeit zu handeln, zu reden, sich einzumischen und zu gestalten. Dazu brauchen wir Verantwortungsbewusstsein, Mut und Gottvertrauen und eine auf Gestaltung und Ganzheitlichkeit ausgerichtete Theologie, die unserem Handeln den Rücken stärkt.

Quellen:
Christine Mauratet, 2011. Dix ans après le 11-septembre : Au Mali, la montée du religieux dans un Etat laïc, www.rfi.fr
Jean-Michel Ducomte. 2001. La laïcité. (Le
s Essentiels, Band 202).Toulouse: Editions Miland,
Roger Mehl. 1990. Artikel „Laizismus“ in der Theologische Realenzyklopädie (TRE, Bd. 20), Berlin: de Gruyter, S. 404–409,

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