Evangelisation – klassisch und postmodern (1)


Worum geht es bei Evangelisation? 
Bei der Evangelisation geht es darum, die biblische Botschaft zu verkündigen. Es geht aber auch um das Angebot der Umkehr zu einem neuen Leben unter der Herrschaft Gottes, um Integration in eine christliche Gemeinschaft, darüber hinaus um Weltgestaltung, um persönliche Veränderung und gesellschaftliche Transformation auf der Grundlage des Evangeliums und der biblischen Werte. 

So war es gedacht: 
Menschen evangelisieren, indem sie durch Worte und ihren Lebensstil im Kontext des alltäglichen Lebens auf Gott den Schöpfer und Jesus Christus den Erlöser der Welt und Herr des Lebens aufmerksam machen. Ziel ist es  außerdem, Menschen zu erklären, wie sie eine persönliche Beziehung zu Gott aufnehmen und leben können. Evangelisation, so verstanden, ging von einzelnen Christen, von Wanderpredigern, von Hauskreisen und Gemeinden aus, die mitten in der Gesellschaft ihre Verantwortung auf ganz natürliche Weise wahrgenommen haben.Öffentliche Ansprachen hatten ihren Platz in der pioniermissionarischen Arbeit oder waren eingebettet in das gemeindliche Leben. So hat Paulus beispielsweise in der Öffentlichkeit evangelisiert und gleichzeitig als Zeltmacher gearbeitet und im beruflichen Kontext Kontakte geknüpft. Nach der Zeit der Gemeindegründung in Thessaloniki hat die Gemeinde selber evangelistisch-missionarische Initiativen gestartet (1Thess 1,2ff) - ohne den Spezialisten Paulus.

Und das hat sich geändert … 
Gesellschaftliche und kirchliche Umbrüche haben dazu geführt, dass die Evangelisation ihren zentralen Platz im kirchlichen Leben einbüßte. Sie wurde im Verlauf der Geschichte die Sache von besonders begabten Berufsevangelisten, die als Wanderprediger mehr oder weniger organsiert neben den offiziellen Kirchen in Erscheinung traten. Im Laufe des Mittelalters entstand das sog. christliche Abendland. Jeder war formal Mitglied der Kirche. Die Folge: Evangelisation war nicht mehr notwendig. Im Laufe des hohen und späten Mittelalters (12.-14. Jh.) kam es zu innerkirchlichen Fehlentwicklungen, die Kritiker auf den Plan riefen. Ihr Ziel war es, die basics des christlichen Glaubens neu in Erinnerung zu rufen. In der Folgezeit fand die öffentliche Evangelisation besonderen Anklang in Zeiten …
  • kirchengeschichtlicher, philosophischer und sozialer Umbrüche, um die Wahrheit des Evangeliums zu proklamieren und zu verteidigen,
  • als das normale christliche Leben an Ausstrahlung verloren hatte und die etablierten Kirchen kein adäquates Mittel mehr fanden, die Menschen durch das Zeugnis des Lebens zu erreichen.


Beispiele:
  • vorreformatorische Wanderprediger in Zeiten der theologischen Krise der kath. Kirche (14./15. Jh.)
  • methodistische Evangelisation in der geistlichen und sozialen Krise in England (18. Jh.)
  • pietistische Erweckungsbewegung in Europa als Antwort auf die Philosophie der Aufklärung (18./19. Jh.)
  • evangelistische Großveranstaltungen in Deutschland nach dem Desaster des 2. Weltkrieges (nach 1945)
  • evangelistische Wortverkündigung als Antwort auf die humanistische und politische Unterwanderung des Missionsgedankens in der ökumenischen Bewegung (seit 1950)
Die englischen Methodisten (Wesley&Co.) haben neben der  verbalen Evangelisation sehr viel Wert auf soziales Engagement gelegt.

 
Missionswerke oder freiberufliche Evangelisten 
  • agieren als eigenständige Körperschaften neben den Kirchen
  • organisieren punktuell evangelistische Events mit dem Ziel, zum Glauben an Jesus Christus einzuladen,
  • kooperieren mit schon bestehenden Gemeinden und unterstützen diese bei dem Bemühen, Menschen in die Nachfolge Jesu einzuladen und in die Gemeinde zu integrieren. 

Ziele der klassischen Evangelisation 
  • Kurzfristig: Sündenerkenntnis beim Zuhörer und Hinweis auf das Angebot von Vergebung, Annahme Gottes, seine Liebe und die Gnade der Rettung in Jesus Christus 
  • Mittelfristig: Glaubenswachstum und Integration in eine lokale Gemeinde
  • Die klassische Evangelisation ist geprägt von der KOMM-STRUKTUR (zentripetal = auf die Mitte zusteuern, auf das innere Zentrum fixiert sein):
    Einladung an einen vorbereiteten Ort zu kommen,
    Programme sind auf ihre Attraktivität für den Zuhörer/Zuschauer abgestimmt,
    Einladung zum Glauben,
Zunächst versuchen Gemeinden und einzelne Christen mit Mitmenschen über ihren Glauben zu reden. Sie wagen es, den eigenen Tellerrand punktuell zu verlassen, in der Hoffnung, den ein oder anderen Zeitgenossen vom Glauben und vom "inneren Ambiente" der Gemeinde zu überzeugen. Doch die nachhaltigen Erfolge sind eher bescheiden. Aufgrund der empfundenen Ohnmacht reift nun der Entschluss, Spezialisten von außen mit an Bord zu nehmen, damit "der Ausflug" über den Tellererand hinaus gelingt. Ziel und Methoden bleiben jedoch die gleichen: Kommt zu uns, bekehrt euch und werdet Mitglied unserer Gemeinde. Durch den professionellen Aufwand der öffentlichen Veranstaltungen entstand zunehmend der Eindruck, dass wirksame Evangelisation nur noch von gut ausgestatteten, auf performance ausgerichteten Gemeinden und von Missionswerken durchgeführt werden kann, die über die technischen und medienwirksamen Mittel verfügen.

 
Ist diese Form der klassischen, organsierten Evangelisation noch zeitgemäß?

Zeitgenosse A. aus N: 
„Einmal im Jahr finde ich einen Flyer in meinem Briefkasten. Dort werde ich von Christen zu einer Evangelisation eingeladen. Ich frage mich: Warum laden die mich nicht persönlich ein? Und warum sollte ich zu denen gehen, wenn sie nicht bereit sind, zu uns zu kommen, wenn wir im Dorf unsere Feste feiern?

Christine M. aus B: 
„Am Arbeitsplatz als Krankenschwester hatte ich die besten missionarischen Möglichkeiten, um meinen Kollegen zu erzählen, warum ich Christ bin und was mir Jesus bedeutet.“

Pastor L. aus  M: 
„Wir können diese Dinge (Programmangebote der Gemeinde) noch ewig weiter anbieten, aber die Leute werden nie kommen und Teil der Gemeinde werden. Und ich habe keine Ahnung, was ich dagegen tun kann“.

Theologie A. aus K: 
„Die Effektivität unserer missionarischen Bemühungen hängt nicht von der Professionalität und Originalität unserer Angebote ab. Sie steht und fällt mit der Tatsache, ob unsere Leiter es verstehen, in die Welt der Nichtchristen einzutauchen und dort mit Hingabe zu dienen.“

Kritischer Berufsevangelist aus A: 
„Die Gemeinden fragen immer mehr danach, wie sie kontinuierlich im normalen Alltag das Evangelium leben und verkündigen können. Eventevangelisationen werden immer unwichtiger“.

Mitarbeiter aus M: 
„Die klassische Evangelisation hat für viele Gemeinden  eine Alibifunktion nach dem Motto: die Spezialisten können das besser als wir. Und sie ist letztlich eine Ohnmachtserklärung: mit der missionarischen Ausstrahlung im normalen Leben funktioniert das  nicht, also holen wir uns jemand von außen, der uns wenigstens punktuell helfen kann“.

Kritischer Gemeindeleiter aus U: 
„Wir gehen in Gemeinden, die die Unerreichten nicht erreichen. Jedes Jahr bekehrt sich nur 1 Person im Verhältnis zu 85 Gemeindemitgliedern.“

Missionar aus A: 
„Wenn sich Missionswerke und Evangelisten in Deutschland als Diener der Gemeinden verstehen, dann stellt sich die Frage:  Wie sieht denn ein zeitgemäßer, effektiver Dienst aus, der Gemeinden hilft, in der heutigen Zeit ein ganzheitliches, von der Gesellschaft wahrgenommenes Zeugnis des Evangeliums zu sein ohne sich auf Spezialisten zu verlassen, die von außen hereingeschneit kommen?“

Analyse der Kirche von England: 
„Welche Faktoren spielen eine Hauptrolle, wenn Menschen zum Glauben kommen? Das Ergebnis war tief enttäuschend: Große Events spielten keine entscheidende Rolle, christliche Medien spielten nur eine recht kleine Rolle. Was aber bedeutend war, waren Beziehungen. … christliche Ehepartner, Arbeitskollegen, der Pastor, der ins Haus kam, Menschen, die etwas ausstrahlen und einen nicht wie ein Missionsobjekt behandeln, sondern in ruhiger Selbstverständlichkeit von dem reden, was ihr Leben im Innersten zusammenhält.“ 

Anfragen an die klassische Evangelisation

  1. Großevangelisationen als Aktion, als Event, die mit mehr oder weniger großem Aufwand aufgezogen werden, sind eine Erfindung der Neuzeit und waren im 19. Jh. bis in die 1990er Jahre ein wirksames und gern benutztes Instrument zur Verkündigung des Evangeliums.
  2. Evangelistische Events behalten als Grundstruktur die meist monologe Verkündigung bei und benutzen dabei moderne Mittel der Präsentation und der Medien (Theater, Satelliten). Das auf Dialog gründende Zeugnis wird meist vernachlässigt.
  3. Bei den genannten Ansätzen besteht die Gefahr, den Menschen auf eine unnatürliche Art und Weise als "Missionsobjekt" zu instrumentalisieren.
  4. Evangelisation bleibt statisch (= unbeweglich) und irrelevant (= bedeutungslos), wenn sie als Verkündigung objektiver Wahrheiten die dynamische Veränderung konkreter, kontextgebundener Einstellungen und Lebensumstände aus den Augen verliert. Evangelisation ist nur dann Verkündigung guter Nachricht, wenn sie Proklamation bibl. Wahrheit mit Situationsrelevanz verbindet und die gesamte Existenz des Menschen in den Blick nimmt.
  5. Evangelisation als Aktion wird organisiert. Evangelisation, eingebunden in das glaubwürdige Leben von Christen, ist der organische Weg.
  6. Kritik an Massenevangelisationen: Anheizen von Emotionen,  manipulative Techniken, mangelnde Sensibilität für den kulturellen Kontext, hoher organisatorischer und finanzieller Aufwand, der nicht im Verhältnis zur erhofften Wirkung steht.
  7. Die klassische Evangelisation ist wenig effektiv. Nur 5 % der Christen geben Eventevangelisationen als wesentlichen Faktor ihrer Bekehrung an, 76 % kommen jedoch durch Kontakte zu Freunden und 22 % durch das vorbildliche Leben christlicher Leiter (Pastoren) zum Glauben an Jesus.
  8. In der klassischen Evangelisation wird der Punkt auf dem i zur Hauptsache gemacht.
  9. Die klassische Evangelisation baut auf einer dichotomischen (zweitgeteilten)  Denkweise auf, wo die Bereiche Gott und Welt voneinander getrennt sind.
  10. Das klassische evangelistische Schema baut auf attraktive Programme. Es ist vorwiegend wirksam für Menschen innerhalb der Gemeinde (m0) und in deren unmittelbarem Umfeld (m1). Um Menschen über signifikante kulturelle Barrieren hinweg zu erreichen, bleibt der klassische Ansatz größtenteils unwirksam.
  11. Die öffentliche Evangelisation, als externe Maßnahme, kann dazu führen, dass das missionarische Bewusstsein in den Gemeinden entschärft wird, so dass lokale Initiativen erst gar nicht entstehen. Das in Eph 4,11 erwähnte Amt (bzw. Funktion) des Evangelisten, das zum Aufbau der Gemeinden dient, befindet sich nicht mehr in, sondern vorwiegend außerhalb der Gemeinde. Der Evangelist kommt von außen und agiert evangelistisch und vernachlässigt seine eigentliche Aufgabe: die Gemeinde zuzurüsten "für das Werk des Dienstes" (V. 12).

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