Theologische Ausbildung | neue Fokussierung


Alan Hirsch plädiert in seinem Buch „Vergessene Wege – Die Wiederentdeckung der missionalen Kraft der Kirche“ (2011. Ed. Novafox. Schwarzenfeld: Neufeld. Kap. 4) für eine Neuausrichtung der theologischen Ausbildung. Als Modell dient ihm dabei die im hebräischen Denken verwurzelte Vorgehensweise Jesu. Jesus beruft Jünger, nicht an ein Seminar, sondern in die konkrete praktische Nachfolge. Das Lernen der Jünger ist eher informell und aufs Engste mit der Praxis und den existentiellen Fragen verbunden, die sich aus dem konkreten Lebensvollzug ergeben. Missionale Leiter ausbilden bedeutet induktiv zu arbeiten. Aus der Praxis werden Fragen und Problemstellungen analysiert und handlungsorientiert reflektiert.
Hirsch wendet sich gegen das vom griechischen Denken beeinflusste westliche Ausbildungskonzept. Es geht davon aus, dass durch die Vermittlung von Informationen, Konzepten und Ideen das Denken von Menschen verändert werden soll und anschließend ihr Handeln beeinflusst. Das hebräische Denken dagegen sieht den ganzen Menschen in seinem Lebensumfeld. Zunächst ging es darum, das Handeln und Verhalten von Menschen zu verändern, was dann zu einem veränderten Denken führt.
Hirsch: „Wir müssen den ganzen Menschen sehen, um zu versuchen, ihn zu ändern. Darüber hinaus müssen wir verstehen, dass wir den ganzen Menschen im Kontext von Leben und fürs Leben ausbilden müssen“ (165).
Der Unterschied zwischen griechischem und hebräischem Denken lässt aufhorchen. Die europäische Geistes- und Theologiegeschichte ist in der Tat von einem zentralen Gedanken beherrscht: Wo liegt der Ursprung des Seins? Das letzte Wesen der Dinge soll denkerisch erschlossen werden, um daran Anteil zu erhalten. Die transzendente Idee, das erste Sein, die Substanz in der Materie, das absolut Gute, der erste Verursacher usw. – das sind die philosophischen Bezeichnungen, die bei dieser Reflexion zu Buche stehen. Der Theologe lernt also, den Kopf zu heben, nach oben zu schauen, in Gedanken abzuheben, um das letzte Sein hinter den Akzidenzien des Lebens zu erfassen. Geschichte, Lebensumstände, existentielle Sorgen der Menschen, das sind für den griechischen Geist nicht zu leugnende, aber doch unwesentliche, zufällige, sich ständig verändernde Nebensächlichkeiten.
Einige Blicke ins Alte Testament reichen aus, um wahrzunehmen, dass hier Geschichten erzählt und konkrete Lebensumstände dargestellt werden, auf die Gott selber oder mittels Patriarchen, Propheten und Könige Einfluss nimmt. Das Besondere, die konkreten Lebensphasen stehen hier im Vordergrund und daraus können dann allgemeine Grundsätze oder Wesensmerkmale abgeleitet werden. Am AT lässt sich gut erkennen, wozu Theologie gut ist: sie soll lebenstüchtig machen und zur Anbetung Gottes verhelfen.
Der vom griechischen, deduktiven Denken beeinflusste Mensch sucht Gott „da oben“.
Der vom hebräischen, induktiven Denken geprägte Mensch sucht Gott „da unten“ im Leben.

Zurück zu Hirschs Anmerkungen: Hirsch sagt, dass der Fokus der Ausbildung an theologischen Seminaren mehrheitlich darauf ausgerichtet ist, den Glauben von Menschen und Institutionen zu bewahren und sie zu bedienen. Menschen werden theologisch und pastoral ausgebildet, um Gemeinden am Leben zu halten und deren institutionelles Gerüst vor dem Einsturz zu bewahren.
Während Universitäten meist in die Städte integriert sind, befinden sich viele evangelikale Ausbildungsstätten auf irgendwelchen abgeschiedenen Hügeln, abgeschottet von der Lebenswirklichkeit der Menschen. Hirsch nennt das eine „klosterähnliche Umgebung“. Dies führt dazu, dass die große Mehrheit der an Seminaren vermittelten Informationen zwar nützlich und korrekt sind, die Sozialisation (Lernsituation) aber eine Gefahr für das Jüngersein darstellt (162). Und weiter lässt sich folgern: die Ausbildung von Leitern, die gelernt haben, das Leben zu meistern, die  handlungsorientierte Theologie vermitteln und so als Vorbild dienen, gestaltet sich schwierig.
Dozenten werden meist aufgrund ihrer akademischen Fähigkeiten berufen. Durch Probevorlesungen müssen sie unter Beweis stellen, dass sie den Stoff beherrschen, fünfzig Bücher zum Thema gelesen haben und dieses denkerisch aufarbeiten können. Der Praxisbezug kommt eindeutig zu kurz. Dozenten werden angehalten theologisch produktiv zu sein, konkret, Aufsätze und Bücher zu schreiben, wenn sie denn Zeit dafür finden. Dies dient ohne Zweifel der Reputation der Institution und auch der eigenen. Wäre es nicht sinnvoll, einen Dozenten auch dazu anzuhalten, dafür zu sorgen, dass er die Bindung ans Leben nicht verliert, indem er 20 % seiner Zeit ehrenamtlich oder als Minijob in die missionarische Arbeit, d.h. in die Praxis investiert, in der Politik mitmischt, Hausaufgabenhilfe anbietet, einem Unternehmen als ethischer Berater zur Verfügung steht oder …
Studierende sollen wissen, welches Lebensthema den Dozenten beschäftigt, für was er steht und wo er sich leidenschaftlich investiert - nicht nur was er intellektuell drauf hat.
Im afrikanischen Kontext habe ich gemerkt, dass Stoffbeherrschung und didaktisches Geschick bei weitem nicht ausreichen. Die denkerisch intellektuelle Leistung wird zwar auch hier honoriert und die logische Nachvollziehbarkeit der Gedanken ist auch hier wichtig. Aber beides ist nicht entscheidend. Regelmäßig bin ich im Unterricht gefragt worden: Wie haben Sie diese Erkenntnisse in ihrem persönlichen Leben und in der Praxis von Gemeinde und Mission umgesetzt? Ich wurde von meinen Studenten „auf die Probe gestellt“. Sie wollten – und das mit Recht – von mir wissen, ob meine Theologie lebenstauglich ist und handlungsorientierend.

Die Gefahr besteht wie so oft, das „griechische Kind mit dem Bade auszuschütten“ und nur noch den „hebräischen Nachwuchs großzuziehen“. M.E. kommt es auf eine gute Mischung an. Neues Denken lernen, beeinflusst mein Handeln. Neues Handeln beeinflusst mein Denken. Beides ist möglich. Ich selbst habe in meinem Theologiestudium mitten in der Vorlesung missional Denken gelernt, als es diesen Begriff noch gar nicht gab. Durch den Versuch, das missionarische Wesen Gottes denkerisch zu erschließen ist in mir eine handlungsorientierte Motivation entstanden, die mich und meine Familie in die praktische Missionsarbeit nach Westafrika katapuliert hat. Neues Denken schafft Power, die auch das Handeln verändert und die Motivation langfristig hoch hält. Man muss und darf Denken und Handeln nicht gegeneinander ausspielen, so wie es bei Hirsch gelegentlich den Anschein hat.
Es kommt auf die Ausgewogenheit an. Pädagogen sagen uns, dass sich die Plausibilität von Informationen und Konzepten erst in der praktischen Umsetzung erweist. Aus diesem Grund muss die Realitätsbezogenheit der Ausbildung erhöht werden.

Welche Alternativen oder Ergänzungen gibt es im westlichen Kontext, um die Einseitigkeiten der bisherigen Ausbildungskonzepte zu umgehen?
Folgende Aspekte fallen mir ein, wenn ich die Gedanken von Hirsch weiter ausziehe:

1.  Ausbildungskonzepte sind vom missionarischen Gedanken durchdrungen. Missionales Denken ist der einzige Garant dafür, dass Theologie ihren Lebensbezug und ihre Dynamik behält.
2.  Das Curriculum und die Kursbeschreibungen werden kritisch unter die Lupe genommen und strikt auf Handlungsorientierung überprüft. Worin besteht die Bedeutung der kognitiv vermittelten Information für die Entwicklung der Persönlichkeit und für die Praxis des Studierenden? Diese Frage soll in jeder Kursbeschreibung beantwortet und im Unterricht gespiegelt werden.
3.  Die Anzahl der klassischen Kurse (reine Informations- und Konzeptvermittlung) wird reduziert und solche Ausbildungselemente werden aufgestockt, wo erfahrene, zur Reflexion und didaktischen Vermittlung fähige Praktiker zu Wort kommen.
4.  Studierende sind durch konkrete Aufgabenstellungen und durch ihre Lebenssituation an das normale Leben der Menschen eingebunden (mit Nichtchristen in einer WG, betreute Mitarbeit in Gemeinden, Projekten und säkularen Einrichtungen)
5.  Praktische Erfahrungen der Studierenden werden nicht im Klassenraum, sondern an neutralen oder auch „säkularen Orten“ (Café, Gemeindehäusern, Jugendzentren, WG) reflektiert.
6.  Jeder Studierende gehört verpflichtend einer Lerngruppe an, die von einem Coach betreut wird.
7.  Der Coach oder Mentor (Dozent oder lokaler Leiter), hilft, Probleme zu erkennen, er bietet Ressourcen an (Bücher, praktische Beispiele u.a.) und schlägt konkrete Vorgehensweisen vor, die dem Studierenden in der Praxis helfen.
8.  Der Austausch mit Dozenten, Coachs und Mentoren wird intensiviert, um Studierenden die Möglichkeit zu geben, von den persönlichen Lebenserfahrungen zu profitieren.
9.  Als Dozenten werden nur solche berufen, die an die Lebenspraxis angedockt sind und die „ihre Fähigkeit gezeigt haben, genau das zu tun, was sie lehren“ (Hirsch, 167).
                                                                                                                                     

Kommentare

  1. Ich finde die Gedanken gigantisch und absolut am Puls der Zeit! Ich beschäftige mich genau mit den selben Fragen seid einigen Jahren und das Ergebnis ist eine duale Ausbildung für Pastoren: THS- Akademie für pastorale Führungskräfte.
    www.ths-akademie.de

    Vielleicht sieht man sich ja mal - Blessings
    Inga M. Haase

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