Szenen einer Berlinreise


Ankunft Berlin-Schönefeld, gegen 20 Uhr. Einige Minuten Fußweg zum Bahnhof. Die Wagons sind fast menschenleer. Die S-Bahn rollt, in Richtung Hauptbahnhof, an den Hinterhöfen der Berliner Häuser vorbei und gewährt mir Einblicke hinter die Fassaden, unaufgeräumte Hinterhöfe, unverputzt, gespannte Wäscheleinen, abgemeldete PKWs, Regentonnen. Zerfetzte Backsteinfassaden huschen vorbei, rot, sandig, bereits vom Schatten der herannahenden Nacht überzogen. Qualmende Heizungsschlote. Wärme und Menschen hinter erleuchteten Fenstern, flackernde Fernsehgeräte, Personen, die bei Tisch sitzen, ein Glas in der Hand, Glück, verpeilte Leben, was weiß ich – Arme, Reiche, Berliner Schnauzen, Blumenzüchter, Migranten, Eigentümer von Schrebergärten, Mütter, Kinder, arbeitslose Väter, Leute mit gutem Job. Wer auch immer sich hinter den Mauern verbirgt, dort lebt, sich sorgt, sich freut – der Zug fährt zu schnell.

Zugestiegen. Drei Jugendliche unterhalten sich lachend. Die Dame in der Sitzreihe neben mir kündigt per Handy ihr Nachhausekommen an. Ein Herr Mitte Dreißig betritt wankend das Abteil und sucht, sich an seiner Einkaufstüte und den Haltestangen gleichzeitig festhaltend, mühsam seinen Sitzplatz.
Nächster Halt „Hauptbahnhof“ – bitte Fahrtrichtung links aussteigen.
Gut, kein Problem. Ich raffe meine Tasche und durchquere den gläsernen Palast, der für kurze Momente nur Züge und Passanten gefangen hält und sie dann wieder in die Freiheit entlässt. Ich verlasse das Bahnhofsgebäude.

Es ist dunkel und kalt. Ein leichter Schneeregen hat eingesetzt. Ein paar Meter vor mir, überquert ein leicht angetrunkener Clochard eine Schnellstraße, obwohl die Ampel rot anzeigt. Auf der anderen Seite erwartet ihn ein Polizist. Aber das gibt’s doch wohl nicht, sag mal, bist du verrückt – fährt er ihn an mit seinem durchdringenden Berliner Dialekt. Der Penner zieht respektvoll seinen Hut, der vom Staub der Straßen und Flecken überzogen ist. Er verneigt sich entschuldigend vor dem Beamten in grün, während ihm dabei der Rucksack mit seinen Habseligkeiten vom Rücken rutscht. Schwamm drüber – man kennt sich.

Gegen 21 Uhr erreiche ich mein Quartier in der Stadtmission, Nähe Hauptbahnhof. Ich weiche in letzter Sekunde einer Lache Erbrochenem aus. Spuren eines Menschen – abgefüllt, rein geschüttet, die Sorgen des Lebens runtergespült, bis an die Grenze und aus vollem Magen heraus gespült. Mahlzeit.

Auf dem Gehweg sehe ich im inzwischen einsetzenden Nieselregen einige Jugendliche sitzen, mit Bierflaschen hantierend. Sie grüßen mich laut und bieten mir eine Zigarette an. Ich lehne dankend ab – bleibe einen Augenblick stehen, grüße zurück – gehe weiter. Abgewrackte Typen – einerseits. Andererseits sitzen sie dort, wie Avantgardisten einer Gegenkultur, wie stolze Häuptlinge, die Kriegsrat halten, mit Ketten behangen und Lederkluft überzogen. Die hochgestylten Chirokesenfrisuren, ihre in Farbe getränkte Haartracht stellen sie wie Trophäen zur Schau. Sie bekunden ihren Stolz, ihr Lebensgefühl, grölend aus angefeuchteten Kehlen.

Am nächsten Tag, um 10.15 Uhr habe ich einen Termin in der Linienstraße. Ich werde mich mit Rainer treffen, um gemeinsam mit ihm zu überlegen, wie wir einen missiologischen Kurs in Urban mission stricken können. Das Ziel meiner Berlinreise ist aber nicht nur rein akademischer Natur. Ich merke, wie wichtig es ist, dass Konzepte aus dem Leben entstehen müssen. Die Syllabi der Theologie müssen von den Impulsen des Alltags geprägt sein und nicht so sehr von den Überschriften und Fußnoten akademischer Publikationen. Menschen, wo man nur hinschaut Menschen, mit ihrem Leben, ihrem Schicksal, keine Konzepte, lauter Leben. Beziehung.

Es bleibt noch Zeit. So entschließe ich mich, dass Feeling der Großstadt ein wenig aufzusaugen und Eindrücke zu sammeln. Statt mit der S-Bahn die Stadt zu durchqueren, mit der U-Bahn in sie abzutauchen, entschließe ich mich, mir die Beine zu vertreten, der Spree entlang. Ich erkundige mich nach dem Weg in Richtung Friedrichstraße. Die nette Dame, die mir freundlich Auskunft erteilt, während ihr das Handy am Ohr klebt, spricht einen osteuropäischen Akzent. Polen. Ukraine … nicht entscheidend? Sie kennt den Weg. Wir wechseln ein paar Worte und wünschen uns einen netten Tag.

Vor mir taucht das Regierungsviertel auf. Meist mit Beton und Glas errichtete Gebäude, die wenig Wärme und Gefühl, aber sehr viel funktionale Effizienz ausstrahlen. Karge Winterbäume, keine Menschen. Von der Bannzone aufgehalten, schaue ich gebannt auf die Residenzen hauptstädtischer Politik. Hier logieren und hantieren die Oberen der Republik hinter transparent undurchsichtigen Fassaden.

Ich unterquere den S-Bahnhof Friedrichsstraße und erinnere mich an eine Berlinreise im Jahre 1982, als die Mauer noch dicht, und die Grenzen zu waren. Damals war mir Berlin sehr grau vorgekommen, Mauern und Häuserwände, abblätternde Farben von Holzrahmen, die halbblinden Fensterscheiben Halt gaben, irgendwie belastet, mit dem Dunst der Unfreiheit überzogen. Heute ist Berlin frei, frei von Passkontrollen und Angstschweiß auf der Stirn, wenn sich vor Jahren Grenzbeamte und VOPOS näherten, im Palast der Tränen. Heute hält kein Beamter die Reisenden mehr auf. Kein Vorzeigen von Pässen. Ein Palast aus Glas und farbigen Werbetafeln – ohne Tränen.

An der Ecke Invalidenstraße- Chausseestraße schaue ich auf ein Hinweisschild, das über einem Hauseingang hängt. ZahnArt lese ich. Ein Schreibfehler – Nein! Der moderne Zahnarzt als Skulpteur – ein Künstler, der die Zähne seiner Klienten modelliert und auf Vordermann bringt. Die Mutation des Arztes zum Artisten ist perfekt.

In vier Metern Höhe hängt das Schild an einem Haus. Speisekombinat, lese ich. Ich merke, dass ich im ehemaligen Ostberlin gelandet bin. Ein wenig DDR-Nostalgie. Ein paar Häuser weiter wird auf einem Schild vermerkt, dass in diesem Haus Bertold Brecht einige Jahre seines Lebens verbracht hat, von 53 bis 56, es ist lange her. Der Stolz auf eine linke Vergangenheit blitzt auf. Es bietet sich der Straße entlang ein Bild der Kontroversen. Hier eine neue, vor kurzem renovierte Boutique, ausgelegt mit extravaganten Artikeln und Accessoires der Postmoderne. Nebenan, ein Laden aus DDR-Zeiten, wo es LPs und Schwarz-Weiß-Postkarten aus den 50ern bis 70ern, statt DVDs zu kaufen gibt. Vollgestopfte Regale, mit nostalgischem Zeug. Eine Verkäuferin sehe ich nicht. Erst um zehn wird geöffnet.

Viele Baugruben. Noch immer werden Gebäude aus dem Nachkriegsdeutschland und den DDR-Zeiten abgerissen oder renoviert. Vor mir taucht eine Ruine auf, ein altes vierstöckiges Backsteinhaus. An der Stirnwand hängt der Stofffetzen aus der Zeit, wo Autonome und Nonkonformisten Häuser besetzten, sich zur Wehr setzten und versuchten, den Immobilienkapitalisten die Stirn zu bieten. Mit wenig Erfolg. Die Baugruben werden bald verschwinden und die Erinnerung an bewegte Zeiten auch.

Turbulent geht es zu in Berlin, wie in jeder Großstadt der Welt, vermute ich. Die Leute gehen nicht, sie eilen, hektisch. Nur die Straßenbahn, die vor mir in die Invalidenstraße einbiegt scheint den Tag gemütlich durchfahren zu wollen. Nein es ist nicht eine Frage des Willens, er kann vermutlich nicht schneller, der gelbe Schienenbus auf seinen ratternden Eisenrädern, so wie die alte Dame, die die breite, durch einen Mittelstreifen geteilte Straße in zwei Etappen überqueren muss. Die Ampel war gerade wieder auf rot gesprungen, gerade als sie die Mitte der Fahrbahn erreicht hatte, und sie zwang inne zu halten, bis zum Nächsten Signal.

Die Plakate, die für ein Event am Wochenende werben, werden in drei Tagen schon wieder überklebt sein, verriet mir Rainer, der seit einigen Jahren in Berlin lebt und versucht im postmodernen, aufgewühlten, undurchschaubaren Milieu der deutschen Hauptstadt missionarisch tätig zu sein. Berlin ist einerseits geprägt von einer Megaeventkultur, andererseits passiert das Entscheidende in den kleinen Cafés, den Boutiquen, den Künstler- und Studentenkneipen und den schier zahllosen Kunstausstellungen. Plakate und Exponate wechseln – zu schnell. Eine Kunst, da hinterher zu kommen.

Ich sitze auf der Treppe der Humboldt-Universität und erinnere mich, in einem Geschichtsbuch gelesen zu haben, dass von hier aus die Demonstranten der 68er losgezogen und Berlin unsicher gemacht haben. Polizeikräfte, die Wasser werfend Demonstranten in Schach zu halten versuchen fallen mir keine auf. Von Rebellion und politischem Aufbruch ist hier nichts zu merken. In einem Schaufenster entdecke ich ein Buch mit dem Titel „Lesebuch für Rebellen“.
Stille Rebellen sah ich vorhin am Ufer der Spree. Penner, die die Nacht am Spreeufer hinter Pappverschlägen oder in Decken gehüllt auf einer Parkbank verbracht haben. Stille Rebellion gegen die Löcher im sozialen Netz der Republik. Schicksale auf der Gartenbank.

Am Abend bin ich mit Rainer und seiner Familie zur Eröffnung einer Kunstausstellung im Kunstschwimmer eingeladen, einem Projekt der ev. Kulturwerkstatt. Claudio, ein Bildhauer aus dem Kiez hat hier seine neusten Exponate ausgestellt. Sie trägt den Titel „Mensch“.

Ein nichtchristlicher Künstler in einer von Christen geführten Kunstausstellung. Er hat seine Freunde mitgebracht. Einer von ihnen hält die Laudatio, wortgewandt, spielerisch – ein Genuss, ihm zuzuhören. Claudio hat unter anderem Nachbarn und Freunde in Holz gehauen, Skulpturen geschaffen, ihnen einen hölzernen, und doch lebendigen, originellen Ausdruck verliehen – einfach faszinierend. Ich unterhalte mich mit Peter, einem Mittsechziger aus Ostberlin. Er erkennt sich in einer der Kunstwerke wieder. Er erzählt mir von dem sehnlichen Wunsch, dass die beiden Teile Berlins endlich zusammenwachsen und eröffnet mir, dass er nur selten in den Westteil der Stadt reist. Die Drogenkriminalität und das kommerzielle Treiben lassen ihn zögern. Er bedauert, dass die alten Bauten aus der Gründerzeit von den reichen Westlern aufgekauft, teilweise abgerissen und durch Glasbauten ersetzt werden. Eine Schande ist das. Ostberlin wird renoviert und verliert dabei sein Gesicht - allmählich und schleichend. Wo sind die Originale, fragt er mit einem melancholischen Ton und schelmischem Blick, wo die lebendigen Kleinkünstler, die morgens um vier mit den zwitschernden Vögeln ihren Tag beginnen die sich einfach ans Klavier setzen, ihre Klarinette hervorholen und anfangen zu komponieren.
Berlin ist brav geworden, zu brav, stellt er bedauernd fest. Ich bin neugierig und frage ihn, ob er lieber ein rebellisches Berlin hätte. Ja, sagt, er – ein bisschen Rebellion, mehr Originale, das vermisst er schon. Die richtigen Typen sind weg, weil sie die steigenden Mieten nicht mehr zahlen können. Die Republik wird geprägt von hörigen Mitläufern. Das Kapital erstickt das eigentliche Leben. Während er erzählt, merke ich, wie ich ihm innerlich zunicke.

Ich sitze im Flugzeug. Rückflug nach Köln. Bald wird mich die provinzielle Beschaulichkeit des Westerwalds wieder eingeholt haben. Urbanes Treiben hier, provinzielle Beschaulichkeit dort.
Berlin ist eine eindrückliche Stadt. Bedrückend aber auch die Frage, wie hier missionarisch gearbeitet werden soll. Die klassischen Methoden der eventorientierten Evangelisation verschwinden im Nebel der Gedanken. Eigentlich unbrauchbar. Innovation. Beziehungsorientierung. Nachhaltigkeit – das ist gefragt. Keine Aktionen, sondern Begegnung in den Straßen. Keine Erfolgsmeldungen, sondern sich vertiefende Kontakte – mitten im Leben, in den Straßen, unter den Bäumen und in den Galerien.

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